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Die Lichter der Vergessenen

Als in der Nacht längst alle schliefen, tauchte eine kleine Gestalt in der engen Gasse auf. Ihr Gang war gebeugt, als würde sie sich ducken. Hatte sie etwas zu verbergen? Nun überquerte sie die Straße und eilte den Hügel aufwärts zum Kirchhof, wo sie hinter den beiden alten Linden verschwand.
Sie dachte wohl, dass niemand sie sähe. Das war aber nicht so, denn am Fenster über der Bäckerei saß Walter Strothmann in seinem gemütlichen Sessel und schaute in die Nacht hinaus.
„Wer geht denn um diese Zeit auf den Gottesacker?“, brummte er. „Und das bei dieser Kälte!“ Er schüttelte den Kopf. „Nein. Nein. Etwas Gutes kann es nicht sein. Man sollte nachsehen.“
Und weil er sich sowieso gleich aufmachen und in die Backstube gehen wollte, erhob er sich und schlüpfte in die gefütterten Stiefel.
„Komm, Anton! Wir schauen mal nach, wer sich da in der Nacht auf dem Friedhof herumtreibt!“, rief er seinem treuen Hund zu, der ihm brav folgte. Es war lausig kalt. Die Bewohner der kleinen Stadt lagen in ihrem warmen Betten und träumten sicherlich vom Weihnachtsfest und von den Geschenken, die sie erhalten hatten.
Mit schnellen, vorsichtigen Schritten stieg er bergan. Auf den Eisregen des Vorabends hatte sich eine dünne Schneeschicht gelegt. Es war glatt und der harsche Schnee knirschte laut unter seinen Füßen. Sollte sich der Fremde noch in der Nähe aufhalten, würde er sein Kommen hören.
Je näher er dem Friedhof kam, desto beklommener wurde ihm ums Herz. Nicht, dass er sich fürchtete, das war es nicht. Er dachte an seine Eltern, deren Grab er zu Weihnachten nicht besucht hatte. Das schlechte Gewissen regte sich, wusste er doch genau, wie wichtig diese Besuche für seine Mutter immer gewesen waren, als sie selbst um ihre Eltern getrauert hatte. Vielleicht konnte er nachher auf den Rückweg bei ihnen vorbeischauen und frohe Weihnachten wünschen. Er grinste, denn er glaubte eigentlich nicht an das Weiterleben nach dem Tode oder zufällige Begegnungen mit Toten gar. Nein. Unmöglich war das
„Unmöglich ist das!“, brummte er leise vor sich hin und folgte der Spur im Schnee. Weit und weiter führte sie in den Friedhof hinein vorbei an der Kapelle, den Soldatengräbern und den Familiengräbern der reichen Familien. Die mit den großen Sandsteindenkmalen und Engeln.
Der Bäcker bemerkte, dass Anton ihm nicht mehr folgte. Der Hund saß auf dem Weg, er knurrte leise und starrte gebannt auf eines der Gräber.
„Komm, Anton!“, rief er ihm zu, doch der gehorchte nicht. Es blieb Walter Strothmann nichts übrig, als umzukehren. Während er sich dem Hund näherte, sprach er beruhigend auf ihn ein. „Was ist denn nur los? Komm, alter Junge!“
Anton machte keine Anstalten, sich von seinem Platz fortzubewegen und dann sah Walter es auch. Lichter flammten auf vereinzelten Gräbern auf, wie durch Zauberhand entzündet.
‚Die Lichter für die Vergessenen!‘, dachte Walter. Wie gebannt und unfähig, einen weiteren Schritt zu machen, blieb er stehen und starrte auf die Lichter. Mehr und mehr entflammten. Ein kleines Lichtermeer, das die Winternacht erhellte.
„Die Lichter!“, stammelte er schließlich. „Wer hat sie angezündet?“
Der Grund seines nächtlichen Gangs auf den Kirchhof fiel ihm wieder ein. Die fremde Gestalt.
„Der Fremde!“, murmelte er. „Wo steckt er? Hat er die Lichter …?“
Er brach ab, starrte auf die Spur im Schnee, die er verfolgte. Die Spur, sie brach ab. Mitten auf dem Weg endeten die Schritte des Fremden. Erst jetzt fiel ihm auf, wie klein die Fußabdrücke waren. Auch trug der Fremde keine Schuhe, denn deutlich zeichneten sich die Zehen der kleinen Füße im Schnee ab. Doch wo war sie geblieben, die Gestalt. Walter schaute nach oben und entdeckte einen Stern, der heller leuchtete als alle anderen in dieser frostkalten Nacht. Und war ihm nicht auf einmal, als höre er ein leises Kichern von irgendwo über ihm. Ein sehr leises. Klitzekleines. Pssst!

© Regina Meier zu Verl & Elke Bräunling